Samstag, 22. Februar 2014

Vanessa wird bestraft

Wieder einmal war Vanessa nicht in der Schule erschienen. Das kam in letzter Zeit häufiger vor, und so wunderte sich auch diesmal keine ihrer Schulfreundinnen. Silke, zu der sie ein besonders inniges Verhältnis hatte, dachte sich jedoch bereits, wo sie die Schwänzerin nach der letzten Stunde finden würde: im ‘Belle de Jour’, einem kleinen, aber netten Lokal, in dem sich die Gymnasiastinnen häufig nach Schulschluss bzw. in der Mittagspause trafen.
Vanessas Mutter war allein erziehend und arbeitete vormittags als Verkäuferin im größten Kaufhaus der Stadt. So konnte ihr nicht auffallen, dass ihre Tochter zwar morgens Tag für Tag um 7:30 Uhr aus dem Haus ging, jedoch immer öfter in die Wohnung zurückkehrte, sobald sie ihre Mutter auf dem Weg zur Arbeit wusste. Vanessa hörte dann Musik, sah sich DVDs an oder zockte an der Spielkonsole – ein deutlich erfreulicherer Zeitvertreib, als in der Schule zu sitzen und zu pauken.
Gegen Mittag, rechtzeitig vor der Rückkehr ihrer Mutter, verließ Vanessa an solchen Tagen wieder die Wohnung, traf sich meist mit Silke und anderen Schulfreunden, und spielte anschließend ihrer am Herd stehenden Mutter die aus der Schule heimkehrende Tochter vor. Das war erprobte Routine und auch diesmal sollte es so laufen. Doch es kam anders…
Denn während Vanessa und Silke im ‘Belle de Jour’ saßen und sich ihren Latte Macchiato schmecken ließen, war Vanessas Mutter nicht nur Hause gekommen, sondern hatte zudem bereits einen Anruf entgegengenommen: Vanessas Klassenlehrer hatte nämlich angerufen, um sich nach dem Wohlergehen der Tochter zu erkundigen – und auf die inzwischen massiv gestiegene Zahl der Fehlstunden hinzuweisen.
Im Anschluss an das Gespräch saß Vanessas Mutter für einige Minuten still neben dem Telefonapparat. Sie war immer stolz darauf gewesen, wie sie die Mehrfachbelastung, allein erziehende Mutter zu sein und Geld verdienen zu müssen, unter einen Hut gebracht hat. Doch nun schien hier so einiges aus dem Ruder zu laufen.
Sie musste an ihre eigene Kindheit denken: Streng, aber gerecht, so würde sie die Erziehung in ihrem Elternhaus beschreiben. Zumal in ihrer Jugend, als bei schwerwiegenderen Vergehen (‘schwerwiegend’ nach damaligen Maßstäben) auch der Lederriemen zum Einsatz kam, hätte sie sich natürlich von Herzen gewünscht,  man würde mehr Nachsicht walten und ihr mehr Freiheiten lassen.
Bei nicht wenigen Dingen würde sie auch heute noch sagen, dass damals zu streng durchgegriffen wurde. Mit Blick auf andere Vorkommnisse fand sie die Erziehungsmaßnahmen ihrer Eltern hingegen doch sinnvoll und richtig. Gleichwohl: Vanessa hatte sie nie geschlagen. Aber nun saß sie da, und ihr war bewusst, dass etwas geschehen musste.
Als Vanessa die Wohnungstür aufschloss, hörte sie sofort von innen Schritte. Als sie dann eintrat und in das Gesicht ihrer herbeigeeilten Mutter sah, war ihr klar, dass Ärger anstand. Welcher Art, konnte sie zwar nicht sagen, doch sie war froh, dass sie Silke zum Essen mitgebracht hatte. Das würde die Lage entspannen. Dachte sie.
“Hallo, Mama! Kann Silke heute bei uns essen?”
“Wo kommst Du jetzt her?”
“Aus der Schule. Wir hatten Sport.” Es war Frühsommer, und wie zum Beweis ihrer Behauptung trug sie ihre Sportkleidung am Leib.
Eine Backpfeife war die unmittelbare Antwort. “Lüg’ mich nicht an! Dein Klassenlehrer hat angerufen.”
Während Vanessas linke Wange glühte, wurde sie ansonsten doch recht blass um die Nase.
“Ich schufte mich ab, damit Du es gut hast und eine anständige Schulausbildung bekommst, und Du…” Vanessas Mutter fehlten die Worte. “Komm mit! Silke, Du kannst heute nicht bleiben. Ein anderes Mal gerne, aber wir haben hier noch etwas zu klären.” Sie fasste Vanessa am linken Oberarm und zog sie mit sich Richtung Wohnzimmer.
Silke war wie elektrisiert. Sie blickte den beiden nach, drehte sich mit klopfendem Herzen um – und hielt an der Türschwelle inne. Als sie hörte, wie ein Stuhl zurechtgerückt wurde, schloss Silke die Wohnungstür von innen, laut genug, damit Vanessa und ihre Mutter denken würden, sie sei gegangen. Wie unter einem magischen Bann, zog es Silke zur Wohnzimmertür. Sie duckte sich an der Seite nieder, und was sie durch die gläsernen Flügel erblickte, versetzte sie endgültig in einen hypnotischen Zustand.
Vanessa lag über den Knien ihrer Mutter, die, auf einem Stuhl sitzend, eine hölzerne Haarbürste ergriffen hatte. Und noch ehe der erste Hieb fiel, hob Vanessa kurz ihren Kopf und blickte der heimlichen Zeugin in die Augen. Sie sagte nichts, wenngleich ihr der Anblick, den sie abgeben musste, sichtlich peinlich war.
Silke blieb noch einen Moment in ihrer Position hocken, um möglichst jedes Detail in sich aufzusaugen. Ihre Freundin tat ihr leid, keine Frage, aber da war auch dieses seltsame Gefühl des Richtigen, Zwingenden, des Unhinterfragbaren. Sie selbst hatte nie etwas auf den Hintern bekommen, aber was sie hier sah, schien ihr… irgendwie korrekt zu sein.
Silke war klar, dass sie nicht länger bleiben konnte: Wenn Vanessa sie sah, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Mutter herüberblickte. Als sie leise und langsam – sehr langsam – Richtung Wohnungstür schlich, hörte sie die ersten kraftvollen Schläge. Nach kurzer Zeit begann Vanessa aufzuschreien.
“Nein, Mama, nicht!” Die Worte ließen Silkes Herz schneller schlagen. Sie ließ ihre leicht verschwitzte Hand auf der Klinke ruhen. Instinktiv wusste sie, dass Vanessas Bitte nicht auf die Tracht Prügel als solche zielte. Etwas anderes war geschehen. Als die Schläge wieder einsetzten, sah sich Silke in ihrer Ahnung bestätigt: Unverkennbar klatschte die Rückseite der Bürste nun auf Vanessas nackte Haut.
Da war es ganz um Silke geschehen. Sie war durch und durch erfüllt von einem Gefühl tiefer Gerechtigkeit. Was hier geschah, schien ihr das einzig Richtige zu sein. Sie traute sich nicht, noch einmal einen Blick auf das Geschehen zu riskieren, ließ aber das Klatschen auf sich wirken und lauschte Vanessas reumütigem Weinen. Berauscht von diesen Eindrücken verließ Silke die Wohnung und schloss die Tür so leise wie möglich hinter sich.
Vanessa war dabei, eine Lektion zu lernen. Doch auch Silke hatte etwas fürs Leben gelernt. Sie, die nie geschlagen worden war, dachte noch lange über das Erlebte nach und bewahrte es in ihrem Herzen.

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