Mittwoch, 26. Februar 2014

Ein jeder kriegt, was er verdient

“Hallo? Ich bin erwachsen!” Tinas Stimme überschlug sich fast vor Empörung. “Ihr könnt mir nicht mehr vorschreiben, wann ich zuhause zu sein habe! Ihr könnt mir gar nichts mehr vorschreiben!”
Ihr Gesicht war nun so zornesrot wie das ihrer Mutter. Diese stand offenbar kurz vorm Explodieren: “Also, da hört sich doch wohl alles auf! Glaubst Du denn, wir machen das gerne? Glaubst Du, es macht mir Spaß, alle paar Wochen mit Dir schimpfen zu müssen wie mit einem kleinen Mädchen?!”
“Dann lass es doch bleiben! Ich kann gut darauf verzichten!”
Da war sie baff. Aber nur kurz: “Christina Rothmunt!”
Oh, oh. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Bei ihrer Mutter gab es wahrlich viele Grade des Zorns – aber wenn sie Tina mit vollem Namen ansprach, dann war es meist für alle Hilfe zu spät. Dann war ein Povoll nicht mehr fern.
“Christina Rothmunt! Ich lasse mir das nicht länger bieten! Wenn Du Dich wie eine Zwölfjährige benimmst, dann musst Du auch wie eine Zwölfjährige bestraft werden. Ein jeder kriegt, was er verdient! Geh auf Dein Zimmer und mach Dich bereit!”
“Aber -”
Geh auf Dein Zimmer! Oder sollen wir heute Abend mit Papa darüber sprechen?”
Ach nein, lieber nicht. Wenn sie sich jetzt noch länger bockig zeigte, dann würde das äußerst schmerzhafte Konsequenzen haben. Sie hatte es so schon weit genug getrieben. Lieber die Zähne zusammenbeißen und Mutter nicht weiter provozieren. Noch ein halbes Jahr vielleicht, dann würde sie eh ausziehen.
Apropos ausziehen
Kaum auf ihrem Zimmer, streifte sich Tina die Hosen von der Haut und legte sich auf das Bett, ein kleines Kissen unter dem Bauch. Denn “sich bereit machen” hieß in ihrer Familie genau dies: den Popo nackig machen und ohne weitere Aufforderung für die Strafe präsentieren. So sollte den Eltern gezeigt werden, dass man einsichtig ist und sich ihrem Willen fügt.
Verdammt, verdammt, verdammt! Ich bin erwachsen!
Aber wem wollte sie das weismachen? Ihre Mutter hatte doch recht: Sie benahm sich wie ein ungezogenes Kind; und nun würde sie einen angemessenen Lohn für ihr ungebührliches Verhalten beziehen.
“Was ist denn mit Tina los? Hat sie Ärger?”
Nein! Auch das noch: Sandra, Du biestiges Schwesterherz! Warum kannst Du nicht bei einer Deiner gestörten Freundinnen sein? Zwölf Jahre war sie alt – und dies hier war ohne Zweifel ein gefundenes Fressen für künftige Sticheleien.
“Na, das kannst Du aber laut sagen!” Hörte Tina da einen Anflug von Schadenfreude in der Stimme ihrer Mutter? “Unserem Fräulein juckt mal wieder das Fell.”
“Und was passiert jetzt?”
Frag doch nicht so dumm, Du Miststück!
“Was glaubst Du wohl? Jetzt gibt es eine Tracht Prügel, die sie so schnell nicht wieder vergessen wird!”
Du lieber Himmel! Wie peinlich! Munter hüpfte Sandra in Richtung ihres Zimmers… hielt inne… und… Stille?!
Hinter Tina ein leises Quietschen. Sie dreht den Kopf und – in der Tür steht Sandra: die linke Hand an den Mund gepresst, kichernd. Ihr Gesicht ist vor Lachen schon ganz rot.
Hau ab!
Schnell wird eine kleine Zunge herausgestreckt, dann ist die Tür auch wieder zu.
Wie lange dauert das denn? Ein Blick auf die Armbanduhr: Schon eine halbe Stunde lag Tina jetzt hier. Mutter ließ sie absichtlich schmoren. “Ein jeder kriegt, was er verdient!” Sie sollte die Angst vor den Schlägen bis aufs Letzte auskosten. Das war Teil der Strafe.
“Das kannst Du aber laut sagen!” Sandra nahm ihre Mutter beim Wort. Tina konnte hören, wie ihre Schwester nebenan das Fenster öffnete und sich mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft unterhielt.
“Tina hat was angestellt. Gleich gibt’s Dresche!”
“Echt?!”
“Oh, ja. Richtig feste auf den Nackten!”
“Jetzt halt Deine verdammte Fresse, Sandra! Ich knall Dir eine, das schwör’ ich!” Angst und Wut waren eins in Tinas Stimme…
“CHRISTINA ROTHMUNT!!! Das habe ich gehört!”
…so wie in Mutters Stimme nur noch unbändiger Zorn brandete.
Sandra und das Mädchen draußen mussten lauthals lachen.
Tina hörte, wie ihre Mutter ins Schlafzimmer ging und den Schrank öffnete. Der Gürtel…
Rothmunt oder Rotmond? Das ist hier die Frage. Was traf wohl eher zu an diesem Tag? Man weiß es nicht. Nur eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Ein jeder kriegt, was er verdient

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